Conny Eisfeld, aka Lomoherz, nimmt Dich mit zu ihrem ersten Lost Place und zeigt Dir zauberhaft verwunschene Bilder!
Das Licht rieselt durch die durchlöcherte Decke, hinab auf den Boden, der eigentlich auch keiner mehr ist. Er ist übersät von Moos und morschem Holz und undefinierbarem Müll. Bis auf den kaputten Stuhl, den erkennt man noch und wir nutzen ihn sofort als Fotomotiv.
Ständig müssen wir aufpassen, wo wir hintreten, denn alle paar Meter erscheint nicht nur die Statik und Konsistenz des Untergrunds fragwürdig – hinzu kommen die tiefen Gräben, die nicht immer so offensichtlich vor uns liegen.
Wo wir sind? In den zerfallenen ehemaligen Lokschuppen in der Hansestadt Stralsund und die „Gräben“ sind sozusagen die Parkplätze oder Einfahrten der Bahnen gewesen.
Mein erster richtiger Lost Place, wie aufregend!
Eine Freundin aus der Hochschule Stralsund, die mal für eine Portraitreihe vor meiner Kamera stand, gab mir den Tipp zu diesem unwirklichen Ort – ein Lost Place beinahe mitten in der Stadt.
Zu viert stürzen wir uns kurz darauf in das Abenteuer Lokschuppen und ich bin kurz davor, uns mit richtigen Entdeckerhüten auszustatten. Wir laufen die alten Schienen entlang, erklimmen den ein oder anderen Schotterhügel, klettern irgendwo hoch und finden schließlich ein winziges Eingangsloch zu einem der drei verlassenen Lokschuppen. Dort hindurch betreten wir eine andere Welt… (das Ganze hat schon etwas Narnia-haftes). Wir sind fasziniert von der Atmosphäre, dem Verfall und den Erinnerungen, die dieser Ort hält, uns aber völlig fremd sind.
Hier und da finden wir einen Schnipsel aus der Vergangenheit um den wir eine ganze Geschichte spinnen könnten und fragen uns, ob das echt ist oder wieder nur entsorgter Müll.
Der Bahnhof von Stralsund ist nur ein paar Meter entfernt, doch in den Gebäuden ist es gespenstisch still. Jedes Ästchen, das wir mit unseren Schuhen zerbrechen, bricht auch die Stille mit einem Krachen. Dass in einem Gebäude Sträucher und kleine Bäume aus dem Boden wachsen, macht diesen Kontrast so phantastisch, als wären wir in eine Kulisse für einen Film eingetaucht.
Tatsächlich waren die Stralsunder Lokschuppen im Sommer 2022 Drehort für den Opernfilm „Orphea in Love“, einem poetischen und musikalischen Liebesmärchen, das im Juni 2023 in die Kinos kommt. Als Komparsin in dem Film hatte ich das Glück, ihn schon vor dem Erscheinungstermin zu sehen und war fasziniert davon, wie die Lokschuppen darin in Szene gesetzt wurden.
Für den Tänzer Kolja – der im Film die Rolle der Eurydike einnimmt – ist dieser verlassene Ort Zuhause, Bühne und Sehnsuchtsort zugleich. Und während sich das (extra wachsengelassene) hohe Gras im nordischen Sommerwind wie die Melodie zu seinem stummen Tanz bewegt, werden die Ruinen der Lokschuppen romantischer denn je ausgeleuchtet. Als unwissende Zuschauerin hätte ich mich wahrscheinlich sogar gefragt, wo denn nur dieser verwunschene Ort zu finden sei.
Um seine Vision festhalten zu können, holten sich Regisseur Axel Ranisch und sein Team eine Drehgenehmigung bei der LEG Stralsund. Die Lokschuppen sind im Besitz der Hansestadt Stralsund und werden von der Liegenschaftsentwicklungsgesellschaft (LEG) verwaltet. Eine Fotogenehmigung wurde kürzlich auch an einen Stralsunder Fotoclub vergeben (hab ich in ihren Storys erfahren). Es ist also möglich, sich dort für diesen oder jenen Zweck aufzuhalten und ich kann nur empfehlen, sich eine Genehmigung zu holen. Denn unser Indiana Jones Abenteuer nahm ein abruptes Ende …
Das Gelände war nicht immer im Besitz der Hansestadt. Und zu der Zeit als wir die Lokschuppen erkundeten, gehörte es als Betriebswerk noch zur Deutschen Bahn, das einen Sicherheitsdienst für dieses Areal angestellt hatte. Während unserer gesamten Sturm-und-Drang-Zeit auf dem Gelände konnten wir niemanden entdecken, der uns hätte Auskunft geben können, ob wir eigentlich hier sein dürfen (natürlich hätten wir schnurstraks kehrtgemacht…) und es kam, wie es kommen musste: Ich im Lokschuppen, bei dem Versuch, diesen einzigartigen Charakter irgendwie fotografisch festzuhalten, während ein paar von uns schon wieder draußen auf dem Gelände waren und eigentlich auch schon alles gesehen hatten. Ich vertröste sie damit, dass ich wirklich nur noch ein – na höchstens zwei! Bilder machen würde, als Fotofreund 1 aufgeregt zum Eingang zurückgelaufen kommt und laut zischt, dass wir erwischt entdeckt worden sind. Aufgeregt sammle ich Model und Fotozeug ein, ein Stativ habe ich heute zum Glück nicht dabei. Nichts wie weg!
Ich hatte ja schon erwähnt, dass der „Eingang“ lediglich ein winziges Loch war, das uns in die geheimnisvollen Lokschuppen führte… Und während ich den Einstieg relativ grazil meisterte (meine drei Fotofreunde wanden sich wie wohlgeformte Aale hindurch), bleibe ich dieses Mal in meiner Aufregung einfach … stecken. Nichts geht mehr. Trotz Adrenalinschub! Und natürlich riecht Mr. Security dort hinten jetzt erst recht Lunte…
Dann passieren Dinge, von denen ich hoffe, dass sie meine Fotofreunde ganz schnell wieder vergessen und ich bin frei! Der Lokschuppen-Aufpasser ist noch ein paar Meter in der Ferne, hat uns aber fest im Blick und wir können genau sehen, wie er seine Schritte beschleunigt…
Am Ende kommen wir mit einer Verwarnung davon, aber angenehm war das nicht. Deshalb: Nicht nachmachen. Genehmigung holen. Alles schier.
Und dann: Staunen, genau hinschauen, wundern, vielleicht festhalten, aber vor allem fasziniert sein von diesem Lost Place mitten in Stralsund und was er für diese Stadt mal war – solange es noch geht.
In den nächsten Jahren will die Hansestadt Stralsund das Gelände der Lokschuppen entwickeln und für einen neuen Zweck rekonstruieren und nutzen. Doch bisher fehlen noch Konzept und Investor.
Alle Bilder dieses verlorenen Ortes wurden mit einer analogen Canon EOS 3000N auf einem Kodak Portra 800 aufgenommen.
Li, mein Model und Inbegriff von jugendlicher Frische vor heruntergekommener Kulisse trieb die Gegensätze an diesem Ort weiter auf die Spitze. Es war das erste Mal, dass ich den Portra 800 tatsächlich als Portraitfilm einsetzte. Bisher kam er bei mir hauptsächlich in der Natur vor. Wo es das Licht zuließ, belichtete ich den Portra eine Stufe über, was aber nicht den gleichen Effekt hat wie ein überbelichteter Portra 400, der dann zu Pastelltönen neigt. Trotzdem mag ich den 800er auch als Portraitfilm sehr. Er ist feinkörniger als mancher 400er Film und sorgt für eine schöne und natürliche Farbsättigung bei den Hauttönen.
Man hat außerdem viel mehr Spielraum für Portraits im Innenbereich (mit dem Portra 400 auf 200 wäre ich hier wahrscheinlich nicht weit gekommen…), was ich auch nochmal unter Kunstlichtbedingungen ausprobieren will. Als Fotoperson bin ich allerdings auch im Innenraum für möglichst viel natürliches Licht, etwa seitlich durch ein Fenster strömend, durch ein Oberlicht o.ä. – oder wie handhabt ihr das?
In den Ecken, wo es auch für den ISO 800 Film zu dunkel wurde, habe ich mit Doppelbelichtungen gearbeitet. Das erlaubt mir, die ISO auf 1600 hochzuschrauben, weil bei Doppelbelichtungen doppelt so viel Licht auf den Film fällt.
Ihr wollt wissen, wie das mit den Doppelbelichtungen funktioniert? Auf meinem Blog erfahrt ihr mehr!
Im November 1863 wurde der Eisenbahnknotenpunkt Stralsund an das preußische Eisenbahnnetz angeschlossen. Der erste Lokschuppen entstand 1879. Als der Fährverkehr Sassnitz-Schweden aufgenommen wurde, gab es noch mehr zu tun und der zweite Lokschuppen wurde gebaut. 1921 folgte schließlich Lokschuppen 3 – mit einer Drehscheibe.
1994 endete der reguläre Betrieb, 2001 wurde das gesamte Bahnbetriebswerk stillgelegt.
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